Logo

Arbeitsmaterial zur Reflexion über den Kunstbegriff

Im Rechtsstreit zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz wird häufig mit dem Kunstbegriff argumentiert, ohne ihn definieren zu wollen.

Wir bieten durch Auszüge aus Lew Tolstoi, Ästhetische Schriften, Rütten & Loening, Berlin, 1984, Vittorio Hösle, Philosophie der ökologischen Krise, C.H.Beck, München, 1994, Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, C.H.Beck, München, 1994

und Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, F.A. Brockhaus, Mannheim, 1983 Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff im Zeitalter der audiovisuellen Kommunikation an.

Über Ergänzungen von Ihrer Seite würden wir uns freuen.

"Die gesamte gegenwärtige Ästhetik besteht also nicht, wie man von einer geistigen Tätigkeit, die sich Wissenschaft nennt, erwarten könnte, darin, die Eigenschaften und Gesetze der Kunst oder auch die des Schönen zu definieren, wenn dieses der Inhalt der Kunst ist, oder die Eigenschaften des Geschmackes zu bestimmen, wenn der Geschmack die Frage nach der Kunst und ihrem Wert entscheidet, und dann, von diesen Gesetzen ausgehend, die Werke als Kunst anzuerkennen, die unter diese Gesetze fallen, und jene zu verwerfen, die nicht darunter fallen, sondern sie besteht darin, nachdem einmal eine bestimmte Art von Werken als gut anerkannt worden ist, weil sie uns gefallen, eine Kunsttheorie aufzustellen, nach der alle Werke, die einem bestimmten Kreis von Menschen gefallen, zu dieser Theorie passen." (Ästhetische Schriften S. 73)

"...und bis zu welchem Grade Sinnlosigkeit und Widerwärtigkeit der Kunst gehen können, besonders wenn sie weiß, dass sie, wie es in unserer Zeit der Fall ist, als unfehlbar gilt, sehen wir daran, was jetzt in unseren Kreisen in der Kunst geschieht." (Ästhetische Schriften S. 74)

"Um die Kunst exakt definieren zu können, darf man sie zuallererst nicht mehr als ein Mittel zum Genuss ansehen, sondern als eine Bedingung des menschlichen Lebens. Betrachten wir die Kunst aber so, dann müssen wir notwendigerweise erkennen, dass die Kunst ein Kommunikationsmittel der Menschen ist. Jedes Kunstwerk bewirkt, dass der Aufnehmende in eine bestimmte Kommunikation zu dem tritt, der Kunst geschaffen hat oder schafft, sowie zu all denen, die gleichzeitig mit ihm, vor ihm oder nach ihm den gleichen künstlerischen Eindruck empfangen haben oder empfangen werden.

Wie das Wort, das die Gedanken und Erfahrungen der Menschen weitergibt, als Mittel zur Einung der Menschen dient, so auch die Kunst. Die Besonderheit jedoch, die dieses Kommunikationsmittel von der Kommunikation durch das Wort unterscheidet, besteht darin, dass der Mensch durch das Wort einem anderen seine Gedanken vermittelt, durch die Kunst aber die Menschen einander ihre Gefühle vermitteln" (Ästhetische Schriften S. 78)

"Früher fürchtete man, unter die Zahl der Kunstgegenstände könnten Gegenstände geraten, die die Menschen verderben, und man verbot die Kunst gänzlich. Jetzt aber fürchtet man nur, irgendeinen Genuss einzubüßen, den die Kunst bietet, und hält seine schützende Hand über jegliche Kunst. Und ich glaube, dass diese zweite Verirrung weit gröber ist als die erste und dass ihre Folgen weit schädlicher sind. Die Beurteilung des Wertes der Kunst, das heißt der Gefühle, die sie vermittelt, hängt davon ab, was die Menschen unter dem Sinn des Lebens verstehen, worin sie das Gute und worin sie das Böse im Leben erblicken." (Ästhetische Schriften S. 83)

"Ein Kirchenvater hat einmal gesagt, das Hauptunglück der Menschen bestehe nicht darin, dass sie Gott nicht kennen, sonder darin, dass sie an Gottes Stelle etwas anderes gesetzt haben, was nicht Gott ist. Das gleiche gilt für die Kunst." (Ästhetische Schriften S. 178)

"Die Kunst, und zwar jegliche Kunst, besitzt die Eigenschaft, Menschen zu vereinen. Jegliche Kunst bewirkt, dass Menschen, die ein von einem Künstler wiedergegebenes Gefühl empfangen, seelisch erstens mit dem Künstler und zweitens mit allen Menschen vereint werden, die das gleiche Erlebnis haben." (Ästhetische Schriften S. 180)

"Die Kunst ist eines der zwei Organe, die dem Fortschritt der Menschheit dienen. Durch das Wort tauscht der Mensch seine Gedanken aus, durch die Darstellungen der Kunst seine Gefühle mit allen Menschen nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit und der Zukunft. Es ist der Menschheit eigentümlich, sich für den Austausch beider Organe zu bedienen, und deswegen kann sich die Entartung auch nur eines der beiden nicht anders als schädlich für die Gesellschaft auswirken, in der es zu dieser Entartung gekommen ist. Das hat notwendigerweise zweierlei Auswirkungen zur Folge: erstens fehlt dann in der Gesellschaft die Tätigkeit, die dieses Organ ausübt, und zweitens ist die Tätigkeit des entarteten Organs schädlich; und ebendiese Auswirkungen sind auch in unserer Gesellschaft aufgetreten." (Ästhetische Schriften S. 191)

"Kunst ist nicht Genuss, Spaß oder Zeitvertrieb; Kunst ist eine große Sache. Die Kunst ist das Lebensorgan der Menschheit, das die Erkenntnisse der menschlichen Vernunft in Gefühl umsetzt. In unserer Zeit besteht das allgemeine religiöse Bewusstsein der Menschen in der Erkenntnis, dass die Menschen Brüder sind und ihr Glück in gegenseitiger Vereinigung liegt. Wahre Wissenschaft muss die verschiedenen Arten und Weisen der Anwendung dieser Erkenntnis auf das Leben zeigen. Die Kunst muss diese Erkenntnis in Gefühl umsetzen.

Vor der Kunst steht eine riesige Aufgabe: Die Kunst, die echte Kunst, die mit Hilfe der Wissenschaft durch die Religion geleitet wird, soll bewirken, dass das friedliche Miteinanderleben der Menschen, das heute durch äußere Maßnahmen, durch Gerichte, durch die Polizei, durch Wohltätigkeitseinrichtungen, Arbeitsinspektionen und dergleichen mehr gewährleistet wird, durch die freie und freudige Tätigkeit der Menschen erreicht wird. Die Kunst soll die Gewalt beseitigen.Und das vermag allein die Kunst." (Ästhetische Schriften S. 223)

"Ein echtes Kunstwerk kann nicht auf Bestellung geschaffen werden, denn ein wirkliches Kunstwerk ist Offenbarung einer neuen Lebenserkenntnis, die sich nach unbegreiflichen Gesetzen in der Seele des Künstlers vollzieht und dann, wenn der Künstler ihr Ausdruck verleiht, den Weg erhellt, auf dem die Menschheit schreitet." (Ästhetische Schriften S. 402)

"... Wir müssen erkennen, dass die neuzeitliche Subjektivität einige Weichenstellungen in der Entwicklung der Menschheit zu verantworten hat, die zu ihrem Untergang führen müssen, wenn wir nicht schleunigst neue Weichenstellungen vornehmen; wir müssen erkennen, dass die heutige Weltkultur krank ist, die Teile haben sich vom Ganzen verselbständigt, weil ein geistiger Einheitspunkt fehlt, auf den sie sich beziehen könnten." (Philosophie der ökologischen Krise S. 145)

"...Auch der schwierigste Gegenstand des Verstehens, die Kunst - zu deren Wesen eine wie auch immer indirekte Form von Mitteilung gehört - , drängt einem leicht die Annahme auf, es gebe keineswegs so etwas wie objektive, methodisch rekonstruierbare Mitteilung; die zu zahlreichen Kunstwerken gehörende Ambivalenz wird leicht subjektivistisch missverstanden - also so, als ob es von einem selbst abhänge, ob man das Kunstwerk so oder so verstehe, während es in Wahrheit objektiv vieldeutig ist." (Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie S.88)

"...Denn sowenig etwas gut ist, weil es zu Glück führt, sosehr ist doch Pflicht, Glück zu realisieren, wo es mit dem Sittengesetz kompatibel ist, und dazu ist kaum etwas wichtiger als die Kultur der richtigen Emotionen. Die strenge normative Ethik schließt das gute, glückliche Leben nicht aus - ganz im Gegenteil fordert sie, dass der einzelne das Allgemeine mit seiner Individualität möglichst harmonisch vermittle.

...

In diesen nur knapp angedeuteten Gedanken ist ein möglicher Zugang zu ästhetischen Phänomenen enthalten: Denn die Kunst hat die Aufgabe, die Versöhnung von Natur und Geist symbolisch zu gestalten." (Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie S. 262)

"....Man ist heute von den Problemen der "Technik" geradezu hypnotisiert; man hat ja auch in bezug auf das Verständnis ihrer Grundlagen - besonders durch die moderne biologische Betrachtungsweise - entschiedene Fortschritte gemacht. Ob beim Klavierspielen oder beim Skifahren - man ist heute imstande, in wesentlich kürzerer Zeit als noch vor wenigen Jahrzehnten wesentlich bessere Ergebnisse zu erzielen. Nur wurden die Künstler dadurch, im Gegensatz zu den Skifahrern, nicht besser, sondern - sofern man das Entscheidende, nämlich die unmittelbare künstlerische Ausdrucksfähigkeit ins Auge fast - schlechter. Eine als Selbstzweck erworbene Technik lässt sich schwer beeinflussen, beeinflusst aber ihrerseits; standardisierte Technik schafft rückwirkend standardisierte Kunst. Wie sehr dieser Prozess, der gesamteuropäisch ist, auch bei uns schon Platz gegriffen hat, ist uns noch keineswegs bewusst geworden. Er geht zu langsam, als das wir ihn bemerkten; wir haben uns schon zu sehr daran gewöhnt.Die Folge ist eine wachsende Entleerung und Entseelung der Kunst, die - zum allgemeinen Erstaunen - im selben Maß, wie sie gekonnter wird, immer überflüssiger zu werden scheint. Im Produktiven wie im Reproduktiven.

Verstehen Sie mich recht: nicht gegen eine hochstehende Technik an sich wende ich mich. Auch ich möchte deren Errungenschaften nicht missen. Gegen was ich mich wende und was mich mit tiefer Sorge erfüllt, ist vielmehr die enorme Divergenz, die zwischen unserem Wissen über die technische und dem über die "seelische" Seite der Kunst klafft...."

Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, F.A. Brockhaus. Mannheim, 1983, S. 65

"Gewiss ist die Kunst und besonders die Musik, die wie kaum eine andere Kunst von den inneren Wirklichkeiten der Völker Kunde gibt, irgendwie national gebunden. Aber doch wohl in anderer Weise, als das die Politiker zu verstehen pflegen. In der Kunst geht es nicht um Absatzmärkte , um Doktrinen, um Demokratie, Kommunismus usw. Die Kunst spricht auch nicht von d e n Völkern, die Machtpolitik treiben und erobern. Sie hat nichts zu tun mit Völkerhass, wo, wie und aus welchem Grund immer er auftritt. Sie sagt nichts von der Politik einer Nation aus - die immer Tagespolitik ist - , wohl aber von deren ewigem Wesen. Sie spricht nicht von der Nation, wo sie hasst, sondern, wo sie liebt. Sie spricht von den Menschen, wo sie "sie selbst" sind, arglos, vertrauend, schlicht, stolz, Teile einer glücklichen Menschheit, die alle umfasst."

Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, F.A. Brockhaus. Mannheim, 1983, S. 67

".... Jedes Kunstwerk hat zwei Aspekte, einen der "Zeit" und einen der Ewigkeit zugewandten. Ebenso wie wir sagen können, der Mensch sei in jedem Moment ein anderer, neuer, es sei Aufgabe des Künstlers, ihn in dieser seiner Veränderlichkeit, Abhängigkeit, in seiner Bedingtheit wiederzugeben, so können wir sagen, die menschliche Seele sei seit Urzeit dieselbe, der Künstler habe sie in ihrem ewig-innersten Sein, in ihrer Einzigkeit und Unzerstörbarkeit darzustellen.

... Der Historiker stellt sich über die Dinge, zieht uns von uns selbst ab, bringt uns zu Betrachtung und Wissen. Seine letzte Absicht geht auf Beherrschung der Vielfalt der Erscheinungen. Der Künstler dagegen stellt uns, und zwar jeden Einzelnen von uns - dem Werk unmittelbar gegenüber, zwingt uns, sich ihm zu stellen, so wie er sich uns stellt; er will nicht Beherrschung, sondern Hingabe. Ist der Historiker der Mann des ordnenden Verstehens, so der Künstler der Mann der - Liebe."

Wilhelm Furtwängler, Gespräche über Musik, F.A. Brockhaus. Mannheim, 1983, S. 86

Installation

Foto: Andreas Bastian